Finde deine Wahrheit

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Kleine braune Erdkrümel kitzeln zwischen meinen nackten Zehen und unter dem Nagel des mittleren lugt ein Grashalm hervor. Mit gerunzelter Stirn balanciere ich auf einem Bein, um ihn hervorzuholen.
Kann das wirklich sein?
Kopfschüttelnd zerquetsche ich den Halm und starre überrascht auf die grüne Flüssigkeit, die frisch und saftig herausquillt. Sofort habe ich den Geruch der Wiese in der Nase.
Schnell wische ich die Finger an der Jeans ab. Der Grashalm fällt zu Boden und ich versuche, nicht erneut darauf zu treten, was nicht schwer ist, denn ich befinde mich mitten in der Großstadt.
Um mich herum brausen Autos, Motorräder und Lastwagen, es ist laut und manche der Fahrzeuge schicken schon das Licht ihrer Scheinwerfer vor sich her, weil es langsam dunkel wird.
Hier gibt es kein Gras. Weit und breit ist – abgesehen von dem kleinen Halm – kein Grün. Normalerweise sind meine Fußsohlen abends schwarzgrau vom Schmutz der Stadt und nicht krümelerdig.
Etwas kitzelt immer noch und ich bewege meine Zehen, reibe sie aneinander, so gut das geht.
Wer kann schon seine kleineren Zehen aneinander reiben?
Ich nicht wirklich und wie es zu erwarten ist, kribbeln und necken mich die winzigen Erdklümpchen weiterhin.
Ich spähe nach links, doch vom Bus, auf den ich warte, ist nichts zu sehen. Langsam lasse ich mich auf den Sitz sinken, der an der Rückwand des Haltestellenhäuschens festgeschraubt ist, und gähne herzhaft.
Was für ein Tag!
Meine Gedanken spielen Ringelreihen und kommen wieder an dem Augenblick vorbei, an dem ich heute Morgen wie immer aus dem Bus gestiegen bin.

Die automatische Haltestellenansage intonierte wie jedes Mal: Nächster Halt, Goethegymnasium, und ich packte meine Tasche, zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und verließ den Bus. Einer meiner Ohrhörer baumelte gegen mein Shirt, aus dem anderen dudelte direkt im Ohr mein Lieblingssong. Ich tastete prüfend die Smartphone- und die Geldbeutelhosentasche ab, was dämlich war, denn ich hörte die Musik, also musste mein Telefon in der Hosentasche stecken.
Gegen Gewohnheit kommt Vernunft nicht an.
Der Fußbodenbelag im Bus war schmutzig, Staub und Dreck haftete an meinen nackten Fußsohlen. Hier und da lagen Papierchen und anderer Unrat. Das geriffelte Gummi auf den Stufen war klebrig und rau wie jeden Tag.
Die kühle Feuchtigkeit unter meinem Fuß beim nächsten Schritt ließ mich erstarren.
Wo ist der Asphalt der Bushaltestelle?
Die Person hinter mir berührte meinen Rücken, weil ich plötzlich innegehalten hatte, und ich stolperte zwei Schritte weiter, um sie vorbeizulassen, bevor ich ratlos stehen blieb. Ich stand auf einer Wiese, starrte die Grashalme und Pflanzen an und hob erschrocken den Kopf, als der Bus keuchend und prustend die Türen schloss und weiterfuhr. Hastig drehte ich mich um.
Das große Fahrzeug verschwand gerade hinter drei hochgewachsen Tannen und nicht – wie vom Fahrplan vorgesehen – hinter einem imposanten Gebäudekomplex. Meine Gedanken wirbelten durcheinander, verflochten und verknoteten sich und passend dazu erklang hinter mir ein merkwürdiges Geräusch, das nach »Hrmpf« klang.
Ich wirbelte herum und starrte das Mädchen an, das neben mir stand und aussah, wie ich mich fühlte.
Sie war kreidebleich, ihre Augen flitzen von einem Punkt zum anderen und wirkten riesengroß. Wie zwei Seen, in denen sich der hellblaue Frühlingshimmel spiegelte. Verwirrt blinzelte ich.
Wie hat dieser Vergleich den Weg in meinen Kopf gefunden?
»Wo zur Hölle sind wir?«, fragte sie und drehte sich um sich selbst. Als sie ihre Ausgangsposition wieder erreicht hatte, starrte sie mit ungläubigem Blick an mir vorbei und ich konnte nicht anders, als mich ebenfalls umzusehen.
Ungefähr acht Meter von uns entfernt stand ein Büffel. Er hatte seinen Kopf seelenruhig im hohen Gras versteckt und fraß. Seine Hörner wippten bei jeder Bewegung auf und ab und hoben sich schließlich in die Höhe.
Der Büffel starrte uns an.
»Was, wenn er uns angreift?«, flüsterte sie und ihre Finger gruben sich in meinen Pulliärmel.
Wie kam sie auf die Idee, ich könnte wissen, wie man reagieren sollte, wenn man einem Büffel gegenübersteht?
Sehe ich aus wie ein Cowboy?
Ich überlegte krampfhaft, was ich antworten könnte, während ihre Hand sich fester um meinen Arm schloss.
Der Büffel stand regungslos da. Seine Augen waren direkt auf uns gerichtet. Mein Herz klopfte bis zum Hals und ich schluckte. Mich zu räuspern, wagte ich nicht, obwohl mein Hals kratzte und sich wie Schmirgelpapier anfühlte. Vorsichtig machte ich Schritte zurück, hielt meinen Arm vor den Oberkörper des Mädchens und brachte es dazu, mir zu folgen. Nicht weit hinter uns lag ein Wald und ich hoffte, wir wären in Sicherheit, wenn wir uns dort verstecken konnten. Nach fünf Schritten von uns machte der Büffel ebenfalls einen Schritt auf uns zu.
Dann noch einen und noch einen.
Sein Blick erschien mir unendlich böse und ich verfluchte jedes Buch, das ich gelesen hatte und das mir nicht beigebracht hatte, wie ich mit einem Büffel umgehen musste.
Ich wusste, dass verschiedene Rinderarten zu den Büffeln gezählt wurden und dass der Amerikanische Bison umgangssprachlich ebenfalls als solcher bezeichnet wurde. Wenn er direkt vor mir stehen würde, wäre er größer als ich und er wog schätzungsweise sechsmal so viel wie ich.
Mein schlaues Gehirn schleuderte mir die Verbreitungsgebiete von Büffeln entgegen und beruhigte mich damit, dass sie Vegetarier waren. Diese Informationen halfen mir allerdings nicht. Fünf Minuten zuvor hatte ich mich noch in meiner Heimatstadt befunden, verflixt nochmal, und ein wütender Büffel würde mich und das Mädchen mit ziemlicher Sicherheit zermalmen oder uns mit seinen riesigen Hörnern aufspießen.
Der Büffel wurde schneller.
Entsetzt drehte ich mich um, packte das Mädchen am Arm und rannte los. Ich zog es hinter mir her und sein keuchender Atem drang in mein Ohr, ebenso wie der des Büffels. Immer wieder schaute ich mich hastig um. Panik stieg in mir auf, weil dieses wilde Tier zu schnell zu nahe kam!
Wir haben keine Chance.
Das gehörnte Tier war deutlich schneller als wir. Seine Hufe trommelten einen mörderischen Takt.
Wir näherten uns dem Wald, der schätzungsweise zwanzig Meter entfernt war. Den Büffel dagegen spürte ich schon fast im Nacken, als aus dem Wald ein grauenhafter Schrei ertönte, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Das Mädchen neben mir stoppte abrupt.
Der Büffel ebenso.
Unser Verfolger machte einige Schritte rückwärts und als der schrille Laut erneut ertönte, drehte er sich um und galoppierte davon.
Erleichterung bahnte sich einen Weg in meine Gefühle, doch ein weiterer Schrei, noch furchterregender als die vorherigen, scheuchte sie wieder fort. Der Ursprung des Schreies war jetzt ganz nahe.
Das Mädchen neben mir reckte sich zu voller Größe und griff nach meiner Hand.
Ich verstand sofort, was sie damit bezweckte. Gemeinsam waren wir größer, stärker, vielleicht sogar furchteinflößender.
Aus dem hohen Gras der Wiese, die den Wald umschloss, trat ein kleines Wesen mit kurzen Beinen, langen Armen und einer riesigen Knollennase mitten im Gesicht. In den braunen Haaren hatten sich fünf kleine Bäumchen angesiedelt.
»Wer bist du?«, fragte das Mädchen neben mir neugierig, doch auf seinem Gesicht lag aufmerksame Wachsamkeit.
»Sieht man das nicht, Menschenmädchen?« Das Wesen verschränkte die behaarten Arme vor der Brust. Seine großen Augen waren ebenfalls braun, nur die Baumkronen strahlten in hellem, frühlingsfrischen Grün.
»Du siehst aus wie ein Troll, aber …« Ihr ratloser Blick traf meinen und sie schien meine Gedanken lesen zu können, denn sie ließ das Ende ihres Satzes zwischen ihr und dem Wesen hängen.
Ich hatte Sorge, dass es nicht gut ankommen würde, wenn sie ihm sagte, dass seine Existenz schlichtweg unmöglich war.
Doch war es nicht auch unmöglich, aus einem Linienbus zu steigen und in einer anderen Welt anzukommen? War es nicht völlig ausgeschlossen, Gras statt Asphalt unter den Füßen zu spüren? Taunasses Gras, frisch und duftend.
»Hast du gerade so grauenvoll geschrien?«, fragte das Mädchen und ich sammelte meine Gedanken wieder zusammen und konzentrierte mich auf seine Stimme.
Das Wesen nickte wild und die Bäumchen auf seinem Kopf bogen sich wie im Sturmwind hin und her. »Natürlich. Der alte Geronimo hätte euch sonst aufgespießt. Er mag es nicht, wenn Menschlinge in sein Revier eindringen. Aber ihr tut es immer wieder.«
»Es kommen öfters Menschen hier vorbei?«
Das Mädchen stellte wichtige Fragen, während in meinem Kopf nur Chaos herrschte.
»Natürlich.« Das Wesen nickte erneut. Die Bäumchen mussten ganz schön was aushalten und ich erkannte erst jetzt, dass die Baumkronen mit unzähligen Blüten übersäht waren. Rosa und weiße Tupfen inmitten des Frühlingsgrüns. »Jedes Jahr am Tag des Frühlingsanfangs steigen zwei Menschlinge aus diesem schrecklichen Blechgedröhn und stören Geronimo beim Mittagessen. Ich helfe nicht allen, müsst ihr wissen. Mittlerweile habe ich einen guten Blick dafür entwickelt, wer meine Hilfe verdient und wer nicht. Und ihr beide …« Das Wesen seufzte tief und voller Inbrunst. »Ihr beide seid einfach wunderbar!« Seine braunen Augen streiften mich von oben bis unten und wiederholten dasselbe bei dem Mädchen.
Sie ging in die Hocke, um auf derselben Augenhöhe wie das Wesen zu sein. »Ich bin Ewa«, stellte sie sich vor und ich konnte zum ersten Mal ungestört ihre blonden langen Haare bewundern, die in dieser Haltung fast den Boden berührten. Sie waren leicht gelockt und strömten wie ein Flusslauf über ihren schmalen Rücken.
»Mein Name ist Eduard.« Der Troll deutete eine Verbeugung an. Als er sich wieder aufrichtete, lag sein Blick auf mir und auch Ewa erhob sich und wandte sich mir zu.
Ich stellte mich ebenfalls vor und es fiel mir schwer, den Blick von Ewa abzuwenden.
»Warum kommen die Menschen hierher? Und wo sind wir überhaupt?« Im Gegensatz zu mir war Ewa auf unser Problem fokussiert.
Ein breites Lächeln erhellte Eduards Gesicht und die Blüten in seinen Bäumen schienen heller zu strahlen. Ich kniff fassungslos die Augen zusammen und rieb darüber, aber am Anblick der leuchtenden Blüten änderte sich nichts. Eduard drehte sich um und stapfte schweigend Richtung Wald.
Ewa und ich wechselten einen kurzen Blick, nickten uns zu und folgten ihm.

Eine ganze Weile wanderten wir hinter ihm her. Ästchen und Steine drückten gegen meine Fußsohlen, zweimal berührte ich etwas Feuchtes und einmal stach mir ein störrischer Strohhalm schmerzend in den Zeh. Der Weg schlängelte sich durch die Wiese und führte uns in den Wald. Links und rechts wuchsen hohe Bäume, Laubbäume ebenso wie Nadelbäume. Sichtbare Sonnenstrahlen durchdrangen die Baumkronen und spendeten dem Moos und den Farnen genug Licht zum Wachsen. Der Waldboden war weich und nachgiebig, das Moos kitzelte und das Zwitschern der Vögel über uns bildete die Kulisse eines zauberhaften Märchenwaldes.
Das Plätschern eines Baches wurde lauter, je tiefer wir in den Wald eindrangen und mein Mund wurde mit jedem Schritt trockener. Doch ich wollte nicht stehen bleiben, um zu trinken, weil ich mir nicht sicher war, ob Eduard auf mich warten würde.
Nach einer Weile öffneten sich die Bäume zu einer Lichtung, durch die ein kleiner Bach munter in seinem Bett dahinfloss. Das klare Wasser sprudelte über runde Steine, blubberte und plätscherte. Die Sonne schien frühlingswarm auf meine Haut und ich blinzelte im hellen Licht.
Eduard blieb in der Mitte der kreisrunden Lichtung stehen und die Bäumchen auf seinem Kopf wippten einige Male, bevor auch sie Ruhe fanden. Er breitete die Arme aus, spreizte weit die Finger und sein Lächeln ließ wieder die Blüten in seinen Baumhaaren erstrahlen.
Ewa griff nach meiner Hand. Ein sanftes Prickeln ging von den Stellen aus, an denen sie mich berührte, und ich hielt sie fest, um das Gefühl weiter zu genießen. Mein Durst verschwand im Hintergrund.
»Dies ist der Mittelpunkt von Heillandi«, sagte Eduard mit Ehrfurcht in der Stimme. »Jedes Jahr zum Frühlingsanfang öffnet sich das Tor zwischen Heillandi und eurer Welt und zwei Menschen dürfen die Magie und den Zauber Heillandis erleben. Manche verlaufen sich zugegebenermaßen und werden erst Monde später gefunden. Tot natürlich. Verhungert.« Er sah uns herausfordernd an.
Meine Gedanken waren ausnahmsweise ausschließlich bei Eduard, während er redete. Sie schweiften nicht ab, außer zur Feststellung, dass sie nicht abschweiften, und allein das grenzte an ein Wunder. Allerdings hatte ich Probleme, zu verstehen, was er erzählte, und vor allem, was er damit sagen wollte. Wie würden wir wieder nach Hause kommen? Kam der Bus irgendwann zurück?
»Ihr werdet eine Aufgabe erhalten, die ihr erfüllen müsst«, fuhr Eduard fort, da selbst Ewa schwieg. »Gelingt euch dies, habt ihr die Möglichkeit, in die Menschenwelt zurückzukehren. Gelingt es euch nicht, werdet ihr euer Dasein in den Kerkern des königlichen Palastes fristen und mit euren ureigenen Ängsten und Alpträumen wieder und wieder konfrontiert werden«, erzählte der Troll, als könnte er meine Gedanken lesen.
Meine Augen schlossen sich.
Ganz von allein, ohne mein bewusstes Zutun.
Meine Gedanken rasten schneller als jede Achterbahn. Ich stürzte im freien Fall.
Ich fiel.
Fiel.
Der unendliche Schmerz des Aufpralls durchfuhr meinen Körper so deutlich wie lange nicht mehr. Die Luft wich aus meinen Lungen und ich rang um Sauerstoff.
Mein ganz persönlicher Alptraum.
Die meisten Menschen hatten so etwas nicht. Aber ich schon. Oh ja.
Stimmen drangen in mein Bewusstsein.
Hinter meinen geschlossenen Augenlidern explodierte ein Funkenregen. Leuchtende Punkte stoben umher, kreischten in meinen Ohren und übertönten die Stimme, die durch den Lärm in mir kaum zu mir durchdrang.
Ich tastete nach meinem Smartphone. Musik. Ich brauchte Musik, um diese rasenden Gedanken auszuschalten, um die Gefühle niederzumetzeln. Doch meine Hände tasteten hilflos über mein Shirt und meine Hose, bis jemand sie festhielt.
»Verdammt, was ist los mit dir?« Die Stimme klang entsetzt und zornig und ich wollte die Augen öffnen.
Wirklich.
Aber es ging nicht.
Wo waren wir hier? Sah so die Hölle aus? Sonnendurchflutet, taufrisch und abgrundtief böse?
»Himmel nochmal! Du kannst jetzt nicht überschnappen und mich allein lassen!« Der Zorn in ihrer Stimme war fort. Geblieben war eine Leere, die ich kannte und die ich nicht sehen musste, um sie zu bemerken. Ich schloss meine Hände zu Fäusten, spannte alle Muskeln an, die notwendig waren, und öffnete die Lider.
Ich blickte direkt in die zwei hellblauen Augen.
Sie waren leer. So unendlich leer.
Vor Monaten hätte ich mich darin verloren, doch heute sah ich die Wegweiser, die überall angebracht waren. Heute erkannte ich die Abgründe und Schluchten, aber auch die schmalen Wege hinter der Leere.
Mit einem Laut, der Lachen und Schluchzen gleichzeitig hätte sein können, schlang sie ihre Arme um mich, hielt mich fest, hielt sich an mir fest, und als sie mich wieder ansah, strahlten ihre Augen.
Ich drückte den Rücken durch und strich über mein Gesicht. Der Troll betrachtete mich verwirrt. Seine Bäumchen wogten sanft im leichten Wind, der über die Lichtung strich, und er kratzte sich am Kinn. Doch dann schüttelte er sich, das Zittern drang in die dünnsten Ästchen seiner Baumkrone, und seine Stimme duldete keinen Widerspruch, als er sagte: »Kommt, kommt, ich bringe euch zur Königin!«
Ich nickte. Meine Gedanken spotteten über die Königin. Sie erzählten mir von Romanen, in denen die Helden genau diese Art Abenteuer erlebten und am Ende das Land regierten, weil sie die verlorenen Kinder des Elfen-, Feen- oder sonstigen Reiches waren, die schon ihr Leben lang nach ihrem verlorenen Vater oder der verlorenen Mutter suchten, die aus ebendiesem Land stammten. Doch in meinem Leben fehlte niemand. Meine Eltern waren mit ziemlicher Sicherheit in der Klinik, in der sie arbeiteten. Mein Vater hatte an diesem Tag eine schwierige Operation und war schon eine Stunde vor mir aus dem Haus gegangen. Meine Mutter hatte denselben Bus genommen wie ich, war aber wie jeden Morgen einige Haltestellen vor mir am Universitätsklinikum ausgestiegen.
»Was war mit dir?« Ewa sah mich unverwandt an. »Ich hatte Angst, der Schock hätte dich verrückt gemacht.«
Ich zuckte mit den Schultern, meine Gedanken spuckten genau dreizehn Antworten aus, die möglich wären, aber nicht der Wahrheit entsprachen. Die Worte jedoch, die aus meinem Mund kamen, waren durch und durch ehrlich: »Mein Alptraum besucht mich in den ungünstigsten Augenblicken, dazu brauche ich kein Heillandi und keinen baumbewachsenen Troll.« Meine Stimme klang bösartiger, als ich es beabsichtigt hatte.
Eduard funkelte mich wütend an. »Meine Bäume sind ein Zeichen von Fruchtbarkeit, unwissender Menschling!« Er stapfte über die Lichtung und verschwand gleich darauf im Wald.
Ewa und ich folgten ihm hastig, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Sein Tempo war rasant, um einiges schneller als zuvor, und meine Gedanken rannten ebenso stürmisch durch meinen Kopf.
Vor fünf Jahren hatte ich mit drei Freunden über meine Art zu denken gesprochen. Sie hatten mich eigenartig angesehen und mir versichert, dass ihre Gedanken keine Tänze, Rennen und Achterbahnfahrten veranstalteten. Sie hatten sogar behauptet, dass sie in der Lage wären, Gedanken geradlinig über Stunden zu verfolgen und sich Konsequenzen zu überlegen, die ihnen zuvor nicht klar gewesen waren.
Danach hatte ich nie wieder versucht, jemandem die Welt in meinem Kopf zu erklären, und ich bewunderte die Aussage »Ich habe stundenlang darüber nachgedacht« jedes Mal, wenn ich sie hörte.
Denn ich konnte es nicht.
Ich konnte keinen Gedanken festhalten, schon gar nicht über Stunden. Meine Gedanken waren wie plappernde Kinder, die niemals den Mund hielten und ganz sicher nicht der Reihe nach redeten.

Der Wald um uns herum war lebendig. Schmetterlinge spielten zwischen den Büschen Fangen, Vögel zwitscherten sich ihre Lieder zu und die Sonne ließ das Grün in mehr als fünfzig verschiedenen Nuancen erstrahlen. Kleine Blumen und Bäumchen wuchsen auf und neben dem Weg, es war unmöglich, nicht auf sie zu treten, so viele waren es. Meine Schritte federten auf dem weichen Pfad, ganz anders als jeder Untergrund, auf dem ich bisher gegangen war.

Frühlingswärme breitete sich erneut über uns aus, als wir wieder aus dem Wald traten.
Vor uns lag eine kleine Stadt. Die Dächer der Häuser leuchteten rötlich-beige und die Luft flimmerte direkt über den Ziegeln wie eine Fata Morgana. Zwischen den Gebäuden wuchsen Bäume, deren Kronen wie grüne Säulen in die Luft ragten.
Der Troll ging zielstrebig vor uns her und drehte sich in kurzen Abständen prüfend zu uns um, als wollte er sichergehen, dass wir ihm wirklich folgten. Seit meinem Aussetzer enthielt sein Blick eine Prise Argwohn, was ich mir nicht erklären konnte, und er sprach kein Wort mehr mit uns.
Ewa hielt meine Hand und es fühlte sich an, als wäre dieses Gefühl seit jeher da gewesen. Als wäre sie ein Teil von mir, was aber völlig verrückt war. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Meinen nächsten Gedanken sprach ich aus. »Du warst noch nie in diesem Bus.«
»Ich wünschte, ich wäre niemals auch nur in die Nähe dieser Stadt gekommen.« Mürrisch kickte sie einen Stein vom Weg und senkte den Blick auf den Boden vor ihr. Ihr Gesichtsausdruck machte mir deutlich, dass sie nicht über dieses Thema sprechen wollte.
Also ließ ich meinen Gedanken freien Lauf, die sich innerhalb Nanosekunden viele Ideen ausdachten, warum Ewa ausgerechnet heute in meinem Bus aufgetaucht war.

Es dauerte nicht lange, bis wir mitten in der Stadt vor einem prunkvollen, aber dennoch kleinen Haus stehen blieben.
Eduard öffnete die Tür zum Innenhof und deutete uns an, ihm zu folgen. Über und über waren die Steine mit grünen Pflanzen bewachsen, den Weg zum Eingang säumten riesige Topfpflanzen mit bunten Blüten und ich traute kaum meinen Augen. Dieses Gebäude sah aus wie aus einem Märchen entsprungen.
Bisher hatte ich diese seltsame Wendung in meinem Leben hinnehmen können, aber das hier gab mir fast den Rest.
Ein Büffel, ein Troll, Ewa.
Und jetzt sollten wir der Königin vorgestellt werden.
Ich schüttelte den Kopf, doch meine Gedanken lachten mich aus.
Abrupte Stille trat allerdings ein, als wir der Königin gegenüberstanden und sie mich mit einem sauertöpfischen Blick ansah. Der Troll verneigte sich und Ewa sah zu Boden, aber ich konnte den Blick nicht von dieser Frau abwenden.
Prunkvoll und stolz saß sie auf einem goldenen Thron, umringt von Bediensteten, wie im Film oder wie man es sich vorstellt, wenn man ein Buch liest.
Träumte ich? War ich im Bus eingeschlafen?
Doch die Worte aus dem Mund der Königin riefen mich ins Hier und Jetzt zurück.
»Ich verstehe nicht, warum du hier bist«, sagte sie barsch.
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. Das verstand ich auch nicht. Allerdings hatte ich die Erwartung gehabt, sie wüsste, was hier geschieht. Offenbar war diese Hoffnung umsonst.
»Du solltest nicht hier sein. Nicht du!«, erklärte sie nachdrücklich und ihr Blick war durchdringend. Es würde mich nicht wundern, wenn sie meine Gedanken lesen könnte.
Ich musste unwillkürlich grinsen, ich konnte nichts dagegen tun. Was würde sie wohl sagen, wenn sie in mein Gedankenwirrwarr eintauchte? Vermutlich würde sie prustend wieder auftauchen und die Flucht ergreifen.
»Nie kam eine Seele in meine Welt, die so stark war, wie du es bist. Du hast deine Aufgabe bereits gelöst. Niemals wurde jemand geschickt, um einem anderen zu helfen.« Die Königin schüttelte mit staunendem Ausdruck in ihren Augen den Kopf. Ihre Hände und die gesamte Körperhaltung drückten Unsicherheit aus, doch außer mir schien sich keiner darüber zu wundern. Sie erhob sich von ihrem Thron und stieg die Stufen zu uns herab.
Eduard, der Troll, wich zurück und Ewa schob ihre Hand wieder in meine. Sie zitterte.
Direkt vor mir blieb die Königin stehen.
Sie roch nach Orangenblüten und Rosen und feine Fältchen durchzogen ihr gepudertes Gesicht.
Und sie verneigte sich.
Sie verneigte sich vor mir, obwohl ich barfuß vor ihr stand. Obwohl ich in ihre Welt eingedrungen war und offenbar gegen jede Regel verstieß, die sie kannte.
Ich schloss meinen Mund, meine Finger umschlossen Ewas Hand. Jetzt war ich derjenige, der fassungslos war. Meine Gedanken hüpften um meinen Verstand und feierten ein Fest.
Die Königin richtete sich wieder auf und wendete sich Ewa zu, die wie versteinert neben mir stand. »Ewa, dich habe ich erwartet. Eduard hat euch sicherlich erzählt, wie jedes Jahr zwei Menschlinge hierher nach Heillandi kommen, um eine Aufgabe zu lösen, die ihnen in ihrem Leben weiterhelfen wird.« Die Königin nahm Ewas freie Hand und strich ihr über den Handrücken, als wollte sie sie beruhigen.
Ewa hob ihren Blick und nickte. »Warum verstehen Sie nicht, aus welchem Grund er hier ist?«, fragte sie gerade heraus und betonte das »er« in ihrem Satz. »Wenn es ein alljährliches Ritual ist, warum ist er dann etwas Besonderes?«
Die Königin winkte ab. »Schweig, Menschling. Die diesjährige Aufgabe lautet: Finde deine Wahrheit. Finde dein innerstes Ich. Finde die Seele in dir und erkenne, warum ausgerechnet du diese Aufgabe erhalten hast.«
Meine linke Augenbraue zuckte, als hätte sie ein Eigenleben. Jetzt war mir klar, warum ich nicht erwartet worden war.
In den letzten Monaten war ich tiefer in meine Seele eingetaucht, als mir lieb gewesen war. Ich hatte mich lange und intensiv mit meinen Gedanken und Gefühlen beschäftigt, so tief gegraben, bis es wehgetan hat und auch dann nicht aufgehört.
Wenn jemand sein Ich kannte, war ich das.
»Solltest du es nicht schaffen, deine Wahrheit zu erkennen, Menschenmädchen, wirst du für immer hierbleiben und der Kerkermeister wird dir zeigen, warum es besser gewesen wäre, dich auf die Suche nach deinem Ich zu begeben. Doch der Auswähler hat es offenbar gut gemeint und dir einen Experten zur Seite gestellt. Vielleicht möchte er uns damit prüfen. Ich bin nicht sicher, was diese Wahl, für uns bedeutet. Und nun geht mir aus den Augen. Geht.« Die Königin wandte sich ab und kehrte zu ihrem Thron zurück.
Ewa starrte der Königin nach und hatte tatsächlich den Mut, zu fragen: »Aber was ist mit ihm? Was passiert mit ihm, wenn er keine Aufgabe hat?«
»Er wird zurückkehren. Ob mit dir oder ohne dich, hast allein du in der Hand.« Die Königin murmelte noch etwas Unverständliches und verließ mit forschem Schritt den Saal, anstatt sich wieder auf ihren goldenen Thron zu setzen.
Ewa wandte sich dem Troll zu. »Haben sonst beide die Aufgabe erhalten?«
Eduard nickte und die Bäumchen wackelten im Takt. »Noch niemals war hier jemand, der seine Aufgabe schon erfüllt hatte. Niemals in meinem ganzen Leben. Und ich bin immerhin dreihundertsiebenunddreißig Jahre alt.«
Ewas Blick wanderte zu mir. Forschend und fordernd sah sie mich an, doch ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte. Ich war mir nicht sicher, wie ich ihr helfen konnte.
Die Tür hinter uns wurde geöffnet und Eduard führte uns aus dem kleinen Palast hinaus.
Auf der Straße blieb er stehen und deutete in die entgegengesetzte Richtung, wie wir gekommen waren.
»Euer Weg führt da entlang. Ich muss euch an dieser Stelle verlassen, es ist mir nicht gestattet, weiterhin zu helfen. Seid vorsichtig, diese Konstellation ist neu. Wer weiß, wohin der Weg euch führen wird. Schafft ihr die Aufgabe, endet er für gewöhnlich an einem Ort, an dem das Blechmonster erscheint und euch zurückbringt. Gebt ihr auf, wird Ewa durch Magie sofort in den Kerker gebracht.« Er bedachte Ewa mit einem mitleidsvollen Blick.
Ewa nickte und der Druck ihrer Finger in meiner Hand verstärkte sich.
»Ich wünsche euch viel Glück«, fügte der Troll an und ging die Straße entlang, fort von uns, vermutlich seinem Zuhause entgegen.
Ich sah ihm nach, runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen. Ewa und ich waren allein. Auf der Straße und in den kleinen Gässchen waren weder Menschen noch Trolle zu sehen. Die geschlossenen Fensterläden der Häuser wirkten abweisend, obwohl die Farben heimelig und warm waren.
Ohne ein Wort zu sagen, setzten wir uns in Bewegung. Der geschotterte Weg führte zwischen unbewohnt wirkenden Gebäude hindurch und begleitete uns aus der Stadt hinaus. Die Wiese erschien endlos, mein Blick fand nichts, an dem er sich festhalten konnte. Kein Hügel und kein Baum durchbrachen die Linie des Horizonts.
»Warum musst du dich selbst nicht finden?«, fragte Ewa mitten in die Stille hinein.
Meine Gedanken kamen quietschend zum Stillstand. »Ich weiß, wer ich bin«, antwortete ich, obwohl ich wusste, dass dies nicht die Antwort war, die sie erwartet hatte. Ich konnte nicht aussprechen, was ich in meinem Inneren fühlte, doch auch das war mir seit Monaten klar.
»Ich weiß auch, wer ich bin«, gab sie patzig zurück. »Ich bin seit siebzehn Jahren Ewa. Tochter, Schwester, Schülerin.«
Ich blieb stehen, um sie anzusehen. Ihr Gesicht war vor Aufregung leicht gerötet, sie war aufgewühlt und ließ meine Hand los.
Langsam schüttelte ich den Kopf. »Nein. So ist die Aufgabe nicht gemeint.« Ich kratzte über die Bartstoppeln am Kinn. Wie sollte ich ihr erklären, was es bedeutete, in sich zu gehen? Und wie sollte ich sie dazu bringen, dies auch zu tun, wenn sie es nicht wollte? Wenn sie nicht bereit dazu war.
Seufzend drehte sie sich um und ging weiter den Weg entlang. Sie fuhr mit den Händen durch die Haare, flocht sie zu einem Zopf und schlang ein Gummi um das Ende, damit die Frisur hielt.
Ich folgte ihr schweigend. Sie war schmal gebaut, fast schon zierlich, doch ihre Bewegungen waren kraftvoll und in einer Weise anmutig, wie es Tänzer sind. Es war sehr angenehm, sie zu beobachten, sie ansehen zu können, ohne dass es aufdringlich war. Ewa faszinierte mich, das wurde mir in diesem Moment klar, und ich wünschte mir, sie würde wieder meine Hand halten. Dieses Gefühl war das einzig Wahrhaftige hier gewesen und fehlte mir.
An einem See hielten wir an. Die sanften Wellen glitzerten klar in der Sonne und frische grüne Gräser umrandeten sein Ufer.
Wir hatten kein weiteres Wort miteinander gesprochen.
Ich ging so weit nach vorn, bis meine Fußrücken unter der Wasseroberfläche verschwanden. Das Wasser war überraschend warm und ich zog mir, ohne nachzudenken, den Pulli über den Kopf, schlüpfte aus der Hose und rannte in den See. Mit kräftigen Zügen schwamm ich hinaus und genoss das Wasser. Es war so klar, dass ich tief unter mir Fische schwimmen sah. Auf dem Grund des Sees wuchsen Algen und Wasserpflanzen, die ich nicht kannte und die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte.
Was konnte ich Ewa sagen? Sie verbarrikadierte offenbar Wahrheiten in sich, die sie freilassen musste. Doch wie sollte ausgerechnet ich sie dazu bringen? Ich redete schon lange nicht mehr mit den Menschen um mich herum. Worte waren wie Schatten, wie Rauch, sie konnten beißen, verdunkeln und waren immer da, wo auch Licht und Wärme waren.
Auf dem Rückweg sah ich Ewa am Ufer sitzen, die Beine angezogen und die Arme darum geschlungen. Ihr Kinn ruhte auf ihren Knien. Durch die Entfernung konnte ich nicht sehen, ob sie die Augen geöffnet oder geschlossen hatte. Ich fühlte mich nicht beobachtet, was dafürsprach, dass sie entweder ihre Lider geschlossen hielt oder völlig in Gedanken versunken ins Leere starrte.
Wie aus dem Nichts war mir klar, warum ich hier war. Die Königin hatte sich geirrt. Ich hatte meine Aufgabe nicht abgeschlossen.
Ich stieg aus dem Wasser und ihr Blick begegnete meinem, als ich aufsah. Das Wasser rann in kalten Rinnsalen über meinen Körper, der Wind war frisch, es war erst Frühling, und die Sonne wärmte nicht, wie ich es in diesem Augenblick gebraucht hätte. Eine Gänsehaut überzog meine Haut, aber ich wollte nicht nass in meine Kleidung steigen.
Ewa lächelte mir zu, als ich auf sie zuging, doch ihr Gesicht erstarrte zu einer Maske, als sie die Narben an meiner Hüfte sah.
Ich folgte ihrem Blick zu den roten Linien.
Noch bevor ich ihren Blick wiederfand, fragte sie: »Was ist passiert?«
Ich war kurz davor, den Kopf zu schütteln und zu schweigen, wie ich es immer tat, wenn mich jemand danach fragte. Ich sprach nicht über diesen Tag, ich redete nicht über diese Gedanken und ich hatte nicht vorgehabt, dies in nächster Zeit zu ändern. Doch da hatte ich noch nichts von einer Welt gewusst, in denen mich ein Büffel namens Geronimo angriff, der Angst vor Troll-Schreien hatte, und in der sich die Königin vor mir verneigte, weil ich mich mit mir selbst beschäftigt hatte.
Was für eine anzügliche Wortwahl, du meine Güte!
Ich ließ mich neben Ewa fallen, schüttelte das Wasser aus den Haaren und aus den Ohren und zog wie sie die Beine an, um mich zu wärmen.
»Ich hatte einen Unfall.« Diese vier Worte fielen mir unheimlich schwer.
Sie beherrschten mein Leben.
Sie sagten alles über mich, was es zu sagen gab.
Es gab ein Davor, ein unbeschwertes Leben, eine Zeit, in der ich frei gewesen war.
Frei und dumm.
Und es gab ein Danach, in dem ich gefangen war, gefangen bin.
Denn egal, wie tief man in sich gräbt, egal, wie ehrlich man zu sich selbst ist, und ob man seine eigenen Lügen jedes Mal durchschaut, man erzählt sich doch immer wieder Märchen.
Märchen, die man glauben möchte, bei denen man gerne die Augen schließen und ihren Wegen und Pfaden folgen möchte.
Manchmal geht man eine Weile in die falsche Richtung und es fühlt sich unglaublich schön und unbeschwert an, obwohl man weiß, dass man eine Lüge lebt und sich selbst zum Narren hält.
Ich bin sehr gut darin. Ich bin Meister. Olympiasieger! Weltmeister!
Ewa sah mich abwartend an, doch ihre Hände verrieten ihre Unruhe. Sie spielte mit den Haarsträhnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten.
Ich presste mit dem Bewusstsein, damit bescheuert auszusehen, die Lippen aufeinander. Es fühlte sich unnatürlich verspannt an.
Ich bin mir meiner Gefühle zu jeder Zeit bewusst. Ich spüre meine Lippen, wie sie beim Formen der Worte die Zähne berühren. Ich spüre den Stoff der Socken an den Zehen und die Fingernägel an den Fingerkuppen, wenn sie zu lang sind, und ich kann dieses Gefühl nicht ausstehen. Fingernägel, die länger als einen Millimeter sind, treiben mich in den Wahnsinn.
Ich spüre alles.
Ich konzentrierte mich auf meine Lippen und die Verkrampfung der Mundwinkel, nahm wahr, wie sich die Falten meiner Lippen unangenehm zu Wellen verformt hatten, und lockerte bewusst die Muskeln wieder.
Ich musste darüber sprechen. Ich musste meinen Teil dieser Abmachung erfüllen, damit dieses bildschöne Mädchen nicht in seiner eigenen Seele ertrank.
Es war nicht einfach, in meiner Seele zu schwimmen. Die Wassermassen da waren zäh und arbeiteten gegen mich. Sie brannten auf der Haut, in den Augen und in offenen Wunden. Davon hatte ich viele. Meine Hände machten sich selbstständig, das kleinste abstehende Häutchen an den Fingern konnte zu einer Wunde werden, die einen halben Quadratzentimeter groß war. Ich wachte nachts auf, weil meine Finger bluteten.
Ich hob meine Hände, um sie zu betrachten. An kaum einem Finger war das Nagelhäutchen heil, fast überall an den unteren Ecken der Nägel schlossen sich Wunden an.
Ewas Finger schlichen sich in mein Bild, strichen über meine Handrücken und meine Finger.
»Ich mag deine Hände«, sagte sie und ihr Zeigefinger fuhr meinen Daumen entlang zum Handgelenk. »Ich liebe dieses Grübchen hier.« Ihr Finger strich über die Kuhle, die sich dort bildete, wo mein Daumen ins Handgelenk überging. Es ist eine der Extensor-Pollicis-Sehnen, durch die dieses Grübchen bei manchen Menschen mehr und bei anderen weniger deutlich ausgeprägt wird.
Ich schloss die Augen und stoppte meine Gedanken. Sie liefen in die falsche Richtung und ich wollte eigentlich heute wieder nach Hause gehen. Ich hatte in der Schule eine Klausur verpasst, dabei war es wichtig, dass ich endlich auf mein ursprüngliches Niveau zurückfand, und ich fragte mich, wie ich meine Abwesenheit meinen Eltern und Lehrern erklären sollte.
»Du hattest einen Unfall«, wiederholte Ewa meine Worte und legte ihre Hand sanft auf meinen Oberarm. Meine Haut reagierte sofort mit einer verräterischen Gänsehautbildung.
Es war lange her, dass eine Berührung so etwas ausgelöst hatte. Es war lange her, dass mich eine Berührung wirklich berührte. Ich richtete meinen Blick auf Ewa und atmete tief ein. Ich atmete aus und nochmals ein. Ich konnte die Worte nicht aussprechen, die ich sagen musste. Sie wollten nicht heraus, verstopften meinen Kopf und meine Atemwege und ich sprang auf.
Ewa erhob sich ebenfalls und tippte sacht auf einen Wassertropfen, der sich einen Weg über den ersten Hügel meiner Bauchmuskeln gesucht hatte. Jetzt trocknete er an Ewas Finger.
»Wir waren unterwegs, draußen an den Klippen.« Ich schubste die Worte in die Welt
Bisher hatte ich sie nur der Polizei erzählt. Ein einziges Mal.
»Wir haben herumgeblödelt.« Die Worte fühlten sich an wie die Stacheln eines Stacheldrahtes. »Wir haben nicht auf den Weg geachtet, waren ihn schon hunderte Male entlanggegangen. Jannes ist gestolpert, gegen Jens und mich geprallt und es gab kein Halten mehr. Vier von uns sind über die Klippen gestürzt.« Meine Augen schlossen sich wie von selbst. Sie klappten einfach zu, als würde das irgendetwas ändern.
Die Bilder dieses Tages hatten sich in meine Gedanken eingebrannt. Ich war mir sicher, sie würden niemals mehr verschwinden. Die Menschen erzählten einem, Zeit würde alle Wunden heilen, doch sie vergaßen dabei, dass Narben für immer blieben.
Narben auf der Haut und auf der Seele.
Die Narben verblassten, keine Frage. Doch sie blieben. Sie hafteten besser als jeder Kleber.
Mühevoll öffnete ich die Augen wieder. Ich musste darüber sprechen. Für mich und für Ewa.
»Ich bin gefallen.«
Ich hatte den Himmel und die Felsen und wieder den Himmel gesehen. Der Fall stoppte jäh und der Schmerz war da. Ich konnte ihn kaum aushalten, mein Bewusstsein war ausgefüllt von ihm. Das Meer brauste an den Strand wie jeden Tag. Möwen kreisten über mir und kreischten. Jens’ Stimme klang beruhigend. Sie näherte sich.
»Jannes und Eike waren sofort tot. Jens starb bei dem Versuch, mir zu helfen.« Ich starrte meine Zehen an. Die Gedanken verharrten verloren an den Klippen. Wie so oft.
Ewa öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ihre Lippen machten dabei ein leises Geräusch. Sie atmete aufgewühlt und zog mich in eine Umarmung.
In meinem Hals machte sich ein Kloß breit, der mich am Atmen und am Sprechen hinderte. In meinem Kopf liefen die Bilder jenes Tages in Endlosschleife.
Das Fallen.
Der Aufprall.
Ich wunderte mich, warum ich nicht bewusstlos geworden war. In meinen Träumen sehe ich Jens, wie er zu mir kletterte. Sein Mund bewegte sich, doch ich hörte nicht, was er sagte. Er streckte mir die Hand entgegen und schrie verzweifelt auf, als er abrutschte und aus meinem Sichtfeld verschwand. Tammo erzählte mir später, dass sich die Ereignisse genauso zugetragen hatten. Mein Unterbewusstsein hatte sich in diesem Schmerz-Zustand mehr gemerkt, als ich offiziell wusste.
Ich hob meinen Blick und sah in Ewas Augen. Die beiden Seen liefen über und sie blinzelte. Tränenflüssigkeit verfing sich in ihren dichten Wimpern und sie wischte unwillig mit dem Handrücken über die Augen. Ihre Bewegungen waren stockend, ihr Blick voller wirbelnder Gefühle, wie ein Orkan.
Den Schmerz in ihren Augen zu sehen, bestätigte mir die Richtigkeit meines Verhaltens. Mit wenigen Worten konnte man Menschen dazu bringen, aus der Bahn zu geraten, und das wollte ich nicht. Die Menschen um mich herum sollten sich wegen mir nicht schlecht fühlen oder gar getriggert werden.
Dies war meine Geschichte und sie sollte niemanden belasten. Die Familien meiner toten Freunde, die Übriggebliebenen und ich litten genug. Doch auch mit ihnen redete ich nicht mehr über diesen Tag. Ich war noch nie ein Mensch vieler Worte, wie man so schön sagt. Die Worte in meinem Gehirn, dieses immerwährende Geplapper meiner Gedanken, reichten mir völlig aus.
Ich trat einen Schritt zurück, löste mich von Ewa und wendete mich dem See zu. Der Wind spielte um meinen Körper und ich fröstelte. Mittlerweile war ich fast trocken und zog meine Kleidung an.
Ich setzte mich auf die Wiese und klopfte, ohne zu Ewa aufzusehen, mit der Hand auf die Stelle neben mir, um sie dazu zu bringen, sich wieder zu setzen. Ich hörte ihre Bewegungen und einen Augenblick später spürte ich ihren Körper neben meinem. Sie war warm und roch nach Morgentau und Sommerregen und mir kam der Vergleich ihrer Augen mit zwei Seen in den Sinn. Sie hatten fast dieselbe Farbe wie der See direkt vor uns.
»Das ist schlimm. Das tut mir leid«, sagte Ewa kurz, und ihre Hand berührte flüchtig mein Knie.
Ich sah sie an, während ich nickte, und suchte nach Worten, die ihr erklären könnten, warum ich meiner Meinung nach hier war. Wie sollte ich erklären, was ich in den letzten Monaten gedacht und gefühlt hatte und wie schwierig es war, ehrlich zu sich selbst zu sein?
Vielleicht wusste sie es, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht gehörte sie zu den Menschen, die ihre eigenen Lügen glaubten, denn von ihnen gab es mehr, als man dachte.
Auf der Oberfläche des Sees erschien für einen Augenblick eine lila Flosse und Ewa zuckte zusammen.
»Was war das?« Sie rieb sich mit ihren Händen über das Gesicht. »Ich werde verrückt«, erklärte sie mehr sich selbst als mir, und doch schaute sie mich an.
Ich zuckte so lässig wie nur möglich mit den Schultern. Lässig konnte ich mittlerweile sehr gut. Lässig muss man können, wenn einen überall die Blicke der anderen verfolgen, wenn einen das Flüstern der Mitmenschen auf Schritt und Tritt begleiten und die ausgestreckten Finger auf einen selbst zeigen.
Weil man dieser eine Junge ist.
»Ich habe verstanden, warum ich hier bin. Auch wenn mein Verstand noch nicht akzeptiert, dass dies hier die Realität ist«, erklärte Ewa ernst. »Meine Gedanken suggerieren mir einen Traum und sie sind durch nichts davon abzubringen. Und in einem Traum ist es einfach, Dinge zu tun, die man sonst niemals tut, und Worte zu sprechen, die einem sonst unmöglich sind, nicht wahr? So unmöglich wie diese Meerjungfrauenflosse eben. So unmöglich wie ein Troll mit Bäumen in den Haaren.«
Was das anging, war ich mir nicht mehr sicher, ob es unmöglich war, doch ich unterbrach sie nicht. Wenn sie reden wollte, sollte sie das tun. Je schneller sie ihre Aufgabe erledigte, desto früher kamen wir nach Hause. Ich wollte die Nacht nicht in einer Welt verbringen, in der es sonderbare Kreaturen gab. Wer wusste schon, welche Lebewesen im Wald lauerten? Abgesehen von der Königin und ihren Bediensteten hatten wir keine Menschen gesehen, was aufgrund der Tatsache, dass wir am helllichten Tag durch ein Dorf gegangen waren, sehr merkwürdig erschien.
»Wir sind vor einer Woche in diese Stadt gezogen, in der ich heute Morgen in einen Bus gestiegen bin. Heute wäre mein erster Schultag gewesen, aber das habe ich gründlich in den Sand gesetzt.« Ewas Gesichtsausdruck zeigte eine Mischung aus Belustigung und Sorge. »Es wäre mein Neuanfang gewesen. Nachdem ich …« Ewas Stimme brach und sie räusperte sich. »… einen Unfall verschuldet habe, bei dem eine Frau und ihre Tochter schwer verletzt worden sind. Ich war mit dem Rad unterwegs und musste einem Passanten ausweichen, der urplötzlich den Radweg betreten hat. Ich habe geschwankt und die Autofahrerin neben mir auf der Straße hatte Angst gehabt, ich würde vor ihr auf die Straße fallen, und ihr Lenkrad nach links gezogen. Sie ist gegen eine Straßenlaterne gefahren und hat dabei die Mutter und ihr Kind angefahren, die dort zu Fuß unterwegs gewesen waren.« Ewa stellte ihre Beine auf, sodass die Knie Richtung Himmel zeigten, und klemmte ihren Kopf zwischen den Knien fest. Die Hände lagen mit den Handflächen nach unten auf der Wiese. Regungslos. Sie schien kaum mehr zu atmen.
Ich ging ihre Worte nochmals durch. Eine Verkettung unglücklicher Umstände hatte dazu geführt, dass zwei Menschen verletzt worden waren, doch Ewa traf keinerlei Schuld. Zumindest nicht, soweit ich es im Augenblick einschätzen konnte.
»Den beiden Verletzten geht es inzwischen wieder gut. Sie waren zusammen in Reha und sind jetzt wieder zu Hause«, nuschelte Ewa zwischen ihren Beinen.
Ich nickte, obwohl ich mir dessen bewusst war, dass sie es nicht sehen konnte, und brummte ein »Mhm«. Meine Hand schwebte für einige Augenblicke über ihrem Rücken, wie angezogen und abgestoßen gleichzeitig. Es war mir unmöglich, sie auf diese Weise zu berühren. Ich biss die Zähne zusammen, stemmte meine Füße in die Wiese und stand auf.
Ewa löste sich aus ihrer Haltung und sah mich irritiert an.
Worauf hatte sie gewartet? War meine Reaktion falsch? Was sollte ich zu ihrer Geschichte sagen?
Mir fehlten die Worte. Ich war es nicht mehr gewohnt, mit Menschen zu kommunizieren.
Ewas Blick hielt mich fest und ich sah wieder die Leere ihrer Augen, ich sah die Hilferufe und die Wegweiser.
Ich sah alles. Und ich sah nichts.
Denn ich wusste nichts von ihr außer einer Geschichte, in der der Endzustand ähnlich dem Urzustand war. Ich war mir im Klaren darüber, dass sich dies für alle Beteiligten nicht so anfühlte, daran musste man mich zu allerletzt erinnern, aber dennoch war es eine Tatsache. Alle lebten ihr Leben.
Wie ich.
Wie wir alle, die tagtäglich aufstanden – oder auch nicht – und deren Zeit noch nicht gekommen war. Mir fiel ein altes Sprichwort ein: Du sollst den Tag nicht vor dem Abend loben. Gab es nicht auch ein Lied, in dem diese Zeile vorkam?
Ich hob meinen Blick aus den beiden Seen heraus, ließ ihn über das Blau des Wassers vor uns gleiten und entdeckte wieder die lila Flosse. Diesmal war sie deutlich näher am Ufer und ich hielt den Atem an. Wellen kräuselten sich von der Bewegung weg, schwappten über die Oberfläche des Sees bis hin zum Ufer, und gleich darauf tauchten lila Haare aus dem Wasser. Sie umflossen ein Gesicht, das so viel schöner war, als ich jemals eines gesehen hatte. Die ebenmäßigen Züge waren wie gemalt, als stammten sie aus einem Buch, entstanden aus einer perfekten Beschreibung. Das Wasser perlte an Haut und Haaren ab, die Gestalt schien völlig trocken zu sein, und ich blinzelte, weil ich meinen Augen nicht traute. Auch Ewa war aufgestanden und ihre Hand schlich sich wieder in meine, als gehörte sie hinein. Das Wesen war eine Meerjungfrau, erklärte mir mein Verstand, aber ich schüttelte innerlich vehement den Kopf, denn es gab keine Meerjungfrauen.
Nicht in meinem Leben.
»Du bist auf dem richtigen Weg«, erklärte die Meerjungfrau und ihr Lächeln ließ mich das Atmen vergessen, obwohl sie nur Ewa ansah. Mit ihrer lieblichen Stimme fuhr sie fort: »Deine Geschichte zu erzählen, war ein guter Anfang, doch nun solltest du tiefer in dich gehen.«
»Wer bist du?«, fragte Ewa ungerührt, als wären Meerjungfrauen für sie keine Besonderheit. Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob mir jemand einen schlechten Streich spielte, doch ich verwarf den Gedanken sofort wieder.
»Ich bin Lorena, ich lebe in diesem See und ich freue mich jedes Jahr auf den Frühling, wenn die Menschlinge vorbeikommen. Die meisten von ihnen nähern sich der Rückkehr nicht so schnell wie ihr, aber du, mein Lieber, hattest von Beginn an einen Vorsprung.« Jetzt richtete sie ihren Blick auf mich und meine Lippen verzogen sich ohne mein Zutun zu einem albernen Grinsen.
»Wie soll ich noch tiefer gehen?«, fragte Ewa. Sie war offensichtlich immun gegen den betörenden Charme Lorenas.
Wirkte dieser nur bei Männern?
Vielleicht hatte ich zu lange niemanden mehr nahe genug an mich herangelassen und wurde zu einem testosterongesteuerten Idioten, der Frauen sabbernd hinterher lechzte. Ich verbot meinen Gedanken, sich zu intensiv in das Thema Idioten und Testosteron einzugraben und konzentrierte mich wieder auf die bezaubernde Gestalt vor mir. Sie war lila. Ihre Haare waren ebenso lila wie ihre spärliche Bekleidung. Auf ihrer Haut, die glänzte wie ein Vampir in der Sonne, befanden sich sogar lilafarbene Leberflecke. Ich sog Luft in meine Lungen.
»Frage dich, was dieses Erlebnis in dir zum Schwingen gebracht hat. Frage dich, ob du stets ehrlich zu dir bist und warst, und stelle sicher, dass du vor nichts davonläufst, sondern all deine Gedanken und Gefühle zulässt.« Langsam ließ sich Lorena wieder zurück ins Wasser gleiten.
Ihre Haare breiteten sich auf der Wasseroberfläche aus wie ein Teppich und verschwanden schließlich mit leisem Blubbern, als wäre niemals eine Meerjungfrau direkt vor unseren Augen erschienen.
»Ich bin verrückt geworden«, überlegte Ewa laut. »Ich habe mit einer Meerjungfrau gesprochen. Ich bin in einem merkwürdigen Land. Ich soll eine Aufgabe erfüllen, die mich vor ein Rätsel stellt. Und wenn ich es nicht schaffe? Dann bleibe ich für immer hier?« Sie sah mich ratlos an. »Was ist das für ein bescheuerter Scherz?«
Haargenau diesen Gedanken hatte ich auch gehabt. Ich drückte sanft ihre Finger, die in meiner Hand lagen. Ein Scherz sollte etwas Lustiges sein und Menschen erheitern. Der Definition nach war unser Abenteuer kein Scherz.
»Meine Familie wird mich suchen«, fügte Ewa erbost an. »Gehöre ich dann zu den Menschen, die für den Rest ihres Lebens auf den Gesucht-Listen stehen? Verschwinden die Menschen alle in andere Welten? Wie viele Welten gibt es? Hier kommen nur im Frühjahr zwei Menschen her, aber es verschwinden so viele mehr.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich war schlicht nicht dazu in der Lage, mir vorzustellen, es gäbe neben unserer Welt noch andere Welten, Bereiche, Lebensräume, wie auch immer man das nannte. Meine sonst so quirligen Gedanken waren in dieser Richtung wie sture Esel und machten keinen Schritt weiter.
Für uns war ausschließlich wichtig, wieder zurück nach Hause zu finden. »Was hat sich für dich seit dem Unfall verändert?«, fragte ich daher in der Hoffnung, der Lösung näherzukommen.
Ewa sah mich stumm an und legte den Kopf schief. Ihr Blick ruhte auf mir und ihre Finger zuckten leicht. Sie biss mit den Zähnen auf ihre Unterlippe und verzog ihr hübsches Gesicht. Sie kämpfte mit sich, holte immer wieder tief Luft, als wollte sie etwas sagen, und schwieg dennoch. Die Worte wollten nicht aus ihr heraus.
Ich verstand sie so gut.
»Lass uns weitergehen«, schlug ich vor und sie folgte mir den Weg entlang, als wüsste ich, wohin wir gehen mussten. Dabei kannte ich mich hier ebenso wenig aus wie sie.
Wir gingen stumm nebeneinander her, fast wie bei einem Spaziergang am Sonntagnachmittag. Um uns herum pfiffen die Vögel und nach wie vor war kein anderer Mensch zu sehen. Auch kein Troll und keine andere Gestalt, die einem sonst nur in Geschichten begegneten. Fragen geisterten durch meinen Kopf. Wo hatte Ewa wohl zuvor gewohnt, hatte sie einen Bruder oder eine Schwester oder vielleicht beides? Welche Musik mochte sie? Sie machte mit Sicherheit irgendeine Art Sport, das sah ich ihrem Körper oder vielmehr ihren Bewegungen an. Wohin war die Ewa verschwunden, die mutig all die Fragen gestellt hatte, die mir nicht über die Lippen gekommen waren?
»Ich habe Angst«, erklärte Ewa unvermittelt und unterbrach meine Gedanken.
Unsere Blicke begegneten sich.
In ihren blauen Augen schimmerten Tränen und ich schluckte. Weinen steckte mich an, der Kloß im Hals materialisierte sich viel zu schnell.
Nach dem Unfall war so viel Leid um mich gewesen, so viele Tränen und gebrochene Menschen. Eltern, die keine Söhne mehr hatten, Geschwister, die zu Einzelkindern, Freundinnen, die ungewollt Singles geworden waren.
Jedes Mal, wenn sie mich sahen, bekamen ihre Augen denselben Ausdruck, dieselbe Frage stand in Großbuchstaben darin geschrieben.
Warum?
Ich wusste es nicht. Ich fand keine Worte, um ihnen zu sagen, wie es mir damit ging, dass ich lebte. Wenn ich es versuchte, bekam ich sofort zu hören, dass ich dankbar sein musste, am Leben zu sein. Dass ich mich glücklich schätzen musste, mit diesen vermaledeiten Narben herumzulaufen, anstatt auf dem Friedhof zu verrotten. Also sagte ich nichts mehr. Ich konnte mich nicht erklären und hörte auf, zu kommunizieren. Meine Gedanken und ich waren mir oft schon zu viel, ich vermisste nichts.
Ewa wischte sich mit einer schnellen Handbewegung über das Gesicht und ihr Blick veränderte sich. Ihre Augen und ihre Mimik erzählten Romane, doch ihre Gedanken blieben mir verborgen. So wusste ich, wie sehr sie ein Thema in ihrem Leben beschäftigte, wie sehr sie darunter litt, und die Aufgabe, die sie heute erfüllen sollte, zeigte mir, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht darüber sprechen wollte. So wie ich nicht darüber sprach.
Ich gab mir einen Ruck und sagte: »Es ist erschreckend, wie nahe uns der Tod jeden Tag ist, nicht wahr?« Das war eines der Dinge, über die ich sehr viel nachgedacht hatte. Man steht nicht morgens auf und denkt sich, oh heute, heute ist der Tag, an dem mich der Tod streifen wird. Heute ist der Tag, an dem mein Leben einen unvorstellbar großen Hieb aushalten muss, der mich von den Füßen fegen wird. Nein, man steht auf und überlegt sich, was man an diesem einen Tag und all den darauffolgenden Tagen erleben wird. Man plant in die Zukunft und verschwendet keine Sekunde an den Gedanken, dass man den nächsten Morgen nicht erleben könnte. Oder in einem Krankenhausbett liegen und dank Trauer und Flashbacks fast verrückt werden wird.
»Ich habe Angst«, wiederholte sie ihre Aussage und sprach diesmal weiter: »Jeden Tag, wenn ich die Augen öffne, frage ich mich, ob heute mein Tag ist. Und egal, wie oft ich mir sage, heute ist nicht der Tag, an dem ich sterbe, frage ich mich zurück: Ach ja? Und warum nicht? Woher willst du das wissen?« Sie verstummte und ich schlang meinen Arm um sie. Ihre Schultern waren warm und weich. Wenn sie sich bewegte, spürte ich ihren Trapezmuskel, den Musculus Trapezius, dessen Name mich zum Schmunzeln brachte. Manchmal wurde er auch Kapuzenmuskel genannt und meine verrückten Gedanken hatten irgendwann den Hoodie-Musculus daraus gemacht.
»Wie gehst du damit um?« Sie blieb stehen und sah mich an.
Meine Augenbrauen schnappten nach oben, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet, doch ich hatte kein Problem damit, sie zu beantworten. Dies war eines der Dinge, die mir in den letzten Monaten klar geworden waren. »Ich lebe so bewusst wie nur irgend möglich. Wenn mir etwas wichtig ist und es machbar ist, mache ich es.«
»Hattest du Angst zu sterben an diesem Tag? Warst du dir der Dramatik bewusst? Hast du deine Freunde gesehen?« Sie ließ mir nicht die Zeit, die vorherige Frage vollständig zu beantworten. Ich presste meine Zähne zusammen. Natürlich hatte ich Angst gehabt zu sterben, als ich auf diesem Fels gelegen hatte, und auch die Antworten auf die anderen beiden Fragen lauteten Ja, also nickte ich. Die Bilder suchten mich in Träumen und als Flashbacks im Wachzustand heim. So wie einige Stunden zuvor. Waren es wirklich schon Stunden? Ich hatte kein Zeitgefühl mehr und mein Smartphone zeigte unverändert 27:89 Uhr an.
»Ich habe Angst«, sagte Ewa neben mir zum dritten Mal. »Jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde. Und wenn ich darüber rede, versteht mich mein Gegenüber nicht. Die Leute sagen, ich müsse endlich vergessen, darüber hinwegkommen. Schließlich wäre alles wieder gut.« Sie ballte die Hände zu Fäusten und spannte die Schultern an. »Ich will nicht daran denken, wirklich nicht. Aber ich sehe das kleine Mädchen blutend und hilflos auf der Straße liegen. Es hat nach seiner Mama gerufen, doch die hat ihm nicht helfen können. Niemand hatte ihm helfen können, alle haben gestarrt und die Handys gezückt und …« Ewa schnappte nach Luft. Die Worte flossen aus ihr heraus wie ihre Tränen und obwohl ich es ihr gerne erspart hätte, darüber zu reden, ließ ich sie weiter erzählen, ohne sie zu unterbrechen oder zu trösten.
Sie brauchte keinen Trost.
Sie musste die Worte aussprechen und sie brauchte Verständnis.
»Ich kämpfe jeden Tag damit, aus dem Haus zu gehen, verstehst du?«, flüsterte Ewa fast. »Ich bin wochenlang nicht in die Schule gegangen. Ich habe niemandem von meiner Angst erzählt und mir eingeredet, dass sie nicht existiert. Ich glaube, das ist der Grund, weswegen ich hier bin.«
All das Unglück dieser Welt, der Tod, der Unfall hatten sich in ihr Leben geschlichen. Sie hatten mit ihren Schwingen Ewas zarte Haut berührt.
Ich zog sie näher an mich heran. Gerne würde ich sie vor ihren Gefühlen, der Boshaftigkeit der Menschen und des Schicksals beschützen.
Nicht umsonst gab es unendlich viele Bücher, in denen das Schicksal als gleichgültig oder mies betitelt wurde. Aber ich konnte sie nicht schützen und das war mir ebenso klar wie ihr. Nichts und niemand konnte sie beschützen.
Wenn diese Erkenntnis erst in dir war, verschwand sie nie wieder vollständig. Man konnte sie verdrängen und wegsperren oder sich mit ihr verbünden und sie als Wahrheit anerkennen, aber es änderte nichts daran, dass sie einen begleitete. Dass sie einem in Situationen die Hand hielt, in denen andere adrenalingepeitscht glückselig grinsten.
Ewa erzählte weiter. Die Worte plätscherten leise aus ihrem Mund. Ihre Lippen bewegten sich und ich hörte ihr zu. Ich nickte und bestätigte ihre Worte.
Ich hatte Ähnliches gefühlt und erfahren und ich verstand alles, was sie sagte.

Ein merkwürdiges Geräusch riss mich aus meiner Aufmerksamkeit. Ich hob den Blick und blieb wie erstarrt stehen.
»Geronimo!«, sprach Ewa erschrocken aus, was sich vor uns aufbaute. Sie sah sich ebenso verwirrt um wie ich.
Wir standen auf einer Wiese, die der von heute Morgen glich.
Wir standen wieder dem Büffel gegenüber. Er hob den riesigen Kopf und starrte uns an.
Ewa packte meine Hand, umschloss sie fest mit ihrer und presste ihren Körper an meinen.
Rechts von uns waren die drei Tannen, hinter denen unser Bus verschwunden war, doch ich wagte es nicht, mich zu freuen. Wenn man bestimmte Erlebnisse im Leben durchgestanden hatte, verlor man die Zuversicht und das Vertrauen in die Worte »Das klappt schon«.
»In meinem früheren Leben hätte ich an dieser Stelle gedacht, juchu, ich habe es geschafft«, flüsterte Ewa. Ich hätte gerne in ihr Gesicht gesehen, um zu wissen, wie sie sich fühlte, aber ich konnte meinen Blick nicht von Geronimo abwenden.
Der Büffel kaute, senkte den Kopf, riss erneut einige Büschel Gras aus und sah uns, während er kaute, durchdringend an. Seine Augen waren schwarz und wenn er sprechen könnte, hätte er uns mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zum Teufel gejagt. Hoffnungsvolle Gedanken trippelten durch meinen Kopf.
Wenn wir wieder an unserem Ausgangspunkt angelangt waren, würde sicherlich gleich der Bus auftauchen, nicht wahr?
Ewa hatte sich ihre Angst eingestanden, sie hatte mir davon erzählt und sie würde zu Hause mit ihren Eltern darüber sprechen. Bisher hatte sie ihr Verhalten lediglich auf den Unfall, auf ihr ganz persönliches Lebensdominospiel geschoben und die Menschen um sie herum hatten ihr geglaubt. Sie selbst hatte sich glauben wollen, hatte ihre Gefühle weggesperrt und nicht zugelassen. Doch so kam sie nicht weiter. Ihre verdrängten Gedanken pressten sie tiefer in diesen Strudel und sie wäre darin ertrunken und nie wieder an die Oberfläche gelangt, wenn wir heute nicht in Heillandi gelandet wären.
Heillandi war isländisch und hieß reizend oder zauberhaft, und ich fragte mich, warum mir das erst jetzt einfiel. Ewa war beides, und ich hätte sie niemals getroffen, wenn uns dieses Abenteuer nicht passiert wäre. Ohne darüber nachzudenken, berührte ich mit den Lippen ihre Haare und küsste sie sanft.
Sie sah auf und auf ihrem Gesicht erschien ein Lächeln. Sie zog ihre Hand aus meiner und schlang die Arme um meinen Körper. Ihre Augen glänzten, als würde die Sonne sich in den Seen spiegeln, und ihre Lippen berührten meine vorsichtig.
Sie sah mich mit glänzenden Augen an und sagte: »Danke. Für dein Zuhören. Und dafür, dass du mir nicht vorgeschrieben hast, was ich denken und fühlen soll.«
Ich nickte. Ich redete nicht viel. Vielleicht würde ihr diese Angewohnheit nicht genügen. Aber für heute war es offenbar perfekt.
Das Schnauben des Büffels trieb uns auseinander. Er war näher gekommen und ich stellte mich schützend vor Ewa. Geronimo gab Laute von sich, die ich lieber nicht gehört hätte. Sie klangen furchterregend und obwohl ich wusste, dass wir diesem Tier nichts entgegenzusetzen hatten, wenn es uns angreifen würde, baute ich mich noch größer vor Ewa auf.
Ich lachte auf. Unsere Situation war hoffnungslos und der Büffel trabte auf uns zu. Ein Grashalm hing aus seinem Maul und bewegte sich beim Kauen auf und nieder, während er uns anstarrte und langsam den Kopf senkte und uns somit seine riesigen Hörner entgegenstreckte.
Er wurde schneller und mein Herz raste. Meine Gedanken waren so still wie nie. Reglos, fast atemlos stand ich da, starrte das riesige Ungetüm an, das mich zwar nicht fressen wollte, es aber nicht mochte, wenn ich es bei seiner Mahlzeit störte. Ich versprach ihm, ich würde niemals mehr Mozzarella essen, damit seine Nachkommen und die Nachkommen seiner Verwandten, wenn er denn welche hatte, nicht verhungern mussten, doch ich hegte die Vermutung, dass Geronimo dieses Versprechen ziemlich kalt ließ.
Sein Trampeln war auf der Wiese deutlich zu hören. Ein Donnern, das andere Geräusche einfach übertönte.
Ich war unfähig, mich zu bewegen.
Ewa klammerte sich an mir fest.
Ich bildete mir ein, den Atem des Büffels auf meiner Haut zu spüren, was völlig albern war, denn er war noch fünf Meter entfernt, und machte mich bereit, erst dann zur Seite zu springen, wenn er direkt vor mir war. Mein Körper war angespannt, jeder einzelne Muskel, sämtliche Musculusse, was war die Mehrzahl von Musculus? Gab es die? Warum wusste ich das nicht? Der Hoodie-Musculus zog sich nach oben, Hilfe von Robin Hood wäre jetzt nicht das Dümmste. Mit Pfeil und Bogen könnte er den Büffel erlegen oder zumindest stoppen. Meine Gedanken kamen wieder in Fahrt und ich begrüßte die Abwechslung in meinem Kopf. Bilder aus dem Kinofilm, den ich vor kurzem gesehen hatte, schwammen durch meinen Blick, Bilder von an Wände und Türen genagelten Kapuzen, und mitten drin materialisierte sich der Bus.
Zischend und prustend öffneten sich seine Türen, ich packte Ewa, sie schob mich hinein, und unter meinen nackten Füßen war das Gefühl des vertrauten Gummis und des Fußbodenbelags im Bus. Ich schlang die Arme um Ewa und starrte aus dem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite, wo Geronimo abbremste, um nicht mit dem Bus zu kollidieren.
Ewa hielten ihren Körper fest an meinen gepresst. Für einen Augenblick starrte sie nach draußen, dann vergrub sie ihr Gesicht an meiner Brust.
Sie weinte.
In meinem Hals war wieder dieser Kloß, diesmal gefüllt mit purer Erleichterung.
Wir hatten es geschafft.
Wir hatten es wirklich geschafft!
Ich schloss die Augen, mein Kinn ruhte in Ewas Haaren auf Ohrhöhe und ich konzentrierte mich auf das Gefühl ihrer Haare auf meiner Haut.
Der Bus ruckte, Stimmen drangen in mein Ohr und ich öffnete die Augen wieder.
Auf den Sitzen saßen Menschen, andere standen, hielten sich an den Haltegriffen, und irgendwo telefonierte jemand laut. Ewa löste sich von mir und sah sich ebenfalls um. Ihr Gesicht in diesem Moment betrachten zu dürfen, war das Schönste seit langem. Sie war erleichtert und glücklich. Sie strahlte, als wäre sie das Zauberwesen und ich grinste über meine absurden Gedanken.
Der Bus hielt an und wir brauchten keine Worte auszutauschen. Wir wollten raus aus diesem Fahrzeug. Hand in Hand verließen wir den Bus. Unter meinen Füßen war endlich wieder kühler Asphalt und ich atmete erleichtert auf.

Mein Blick streift über die Fahrplananzeige der Bushaltestelle und wird von dem Grashalm auf dem Boden angezogen. Ich befinde mich mitten in der Großstadt, um mich herum brausen Autos, Motorräder und Lastwagen, es ist laut. Manche der Fahrzeuge schicken schon das Licht ihrer Scheinwerfer vor sich her, weil es langsam dunkel wird.
Hier gibt es kein Gras.
Weit und breit ist abgesehen von meinem kleinen Halm kein Grün.
Ich atme tief durch.
Diese Geschichte wird mir niemand glauben und meine Gedanken machen sich schon daran, sie zu bagatellisieren, als Traum und Einbildung abzutun. Ich drehe mich um und sehe das Mädchen an, das neben mir sitzt, die Beine ausgestreckt, und mich mit seinen hellblauen Augen erschöpft und doch erwartungsvoll ansieht. Ich strecke ihm meine Hand entgegen, die es sofort ergreift.
»Lass uns zu Fuß gehen. Ich bringe dich nach Hause.«
Ewa nickt, wir stehen auf und gehen gemeinsam die Straße entlang. Sie kuschelt ihren Körper an mich, und ich genieße das Gefühl ebenso wie den Geruch nach Abgasen in meiner Nase und den Asphalt unter meinen Füßen. Ewa niest zweimal, ich murmele Gesundheit und eine junge Frau mit lila Haaren und einem lila Kleid reicht ihr im Vorbeigehen wie selbstverständlich mit einem freundlichen Lächeln ein Taschentuch.

ENDE

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